Erstellt am: 11.07.2022 22:27
Von: Diakon Manfred Zoll, Kirche Unterwegs, Weissach im Tal


Was ist eigentlich die größte Kunst?

Klavierspielen? Kochen? Gedichte schreiben? Fahrradfahren? Rückwärts über ein Drahtseil balancieren oder gar den Mount Everest besteigen?


Ich glaub, eine der größten Künste ist es, einfach zuzuhören. Ja, nichts anderes zu tun, als bei einem Gespräch einfach zuzuhören. Ohne abzuschweifen. Ohne bereits, bevor der andere seinen Satz beendet hat, eine Antwort zu formen und damit gleich herauszuplatzen. Ohne eine Antwort zu geben auf eine Frage, die niemand gestellt hat. Ohne während eines Gesprächs nur halbherzig dabei zu sein und sich gedanklich bereits auf den nächsten Termin einzustellen. Einfach nur zuhören und ganz da zu sein. Ich gestehe, dass ich bereits beim Hören eines Vortrags gerne Argumente sammle, um dann das Gesagte hinterher zerlegen zu können. Ja, es ist ne große Kunst, einfach nur mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuzuhören, ganz Ohr zu sein und den anderen gelten zu lassen.

Ich erinnere mich an ein Gespräch, wo ich das versuchte und es in Ansätzen gelang: Da erzählte mir jemand von einer großen inneren Not, von heftigen Zweifeln, ja von Verzweiflung und Sorgen. Und mir fiel nichts ein. Ich hatte keine Antwort, keine Lösung und schon gar keine guten Ratschläge. Es fiel mir schwer, sehr schwer, mitansehen zu müssen, wie sehr diese Person litt, ohne helfende Worte sprechen zu können. Aber ich hörte einfach zu, stellte ab und zu ne Frage und ermunterte zum Weitererzählen. Bestimmt eine halbe Stunde lang. Oder länger. Und dann sagte die Person plötzlich: „Jetzt kann ich wieder frei atmen.“

Obwohl ich nichts getan hatte, als zuzuhören. Obwohl ich unter meiner Ratlosigkeit und Hilflosigkeit gelitten hatte. Kann Zuhören wirklich eine Lösung sein? Mehr noch als alle guten Tipps und Impulse? Manchmal schon. Vielleicht sogar ziemlich oft. Und womöglich würde uns allen ein Mehr an Zuhören wirklich besser dienen, als die Geschwätzigkeit und das Kommentieren, Bewerten, Verurteilen.

Ja, Zuhören ist wohl die größte Kunst. Bemerkenswert, dass Gott in der Bibel als Wahrnehmungsgenie und Zuhörkünstler beschrieben wird, als einer, der ganz Ohr ist. Der ermuntert zu erzählen, zu bitten, betend zu suchen, mit ihm zu ringen. Statt guter Ratschläge zu erteilen, hört er einfach nur zu.

Und darum liege ich ihm gerne in den Ohren, immer wieder. Auch mein Schweigen hält er aus, wenn es mir die Sprache verschlagen hat oder mir die Worte fehlen. Ich stelle mir manchmal vor, wie ich mich hineinlege in sein Ohr und es mir gemütlich mache, wie ich Geborgenheit finde und einen Schutzraum, in diesem Ohr Gottes. Und er mir einfach nur zuhört – wie so vielen anderen, die ihm in den Ohren liegen. Und manchmal geht es mir dann wirklich so, dass ich hinterher wieder frei atmen kann. Zuhören ist eine große Kunst mit großer Wirkung!

Diakon Manfred Zoll, Kirche Unterwegs, Weissach im Tal