Erstellt am: 24.12.2014 15:58
Von: Rolf Königstein

Kategorie: Personen

In Teufels Küche

Pfarrer Dr. Ingo Sperl präsentiert sein neues Buch über ein Leben mit einer chronischen Krankheit und ihren Folgen. Eine Buchbesprechung von Rolf Königstein.


Dr. Ingo Sperl, Pfarrer in Oberbrüden-Unterbrüden, legt mit diesem Buch einen eindringlichen, sehr persönlich gefärbten Lebensbericht eines chronisch kranken Menschen vor, auch mit dem Wunsch, den Gesunden zu helfen, uns zu verstehen und neu zu achten, ohne unsere Krankheit in den Vordergrund zu stellen. Und er möchte sich (und anderen Betroffenen) helfen, weich zu bleiben trotz aller Schmerzen, Leiden und Beschwerden. Der Titel „In Teufels Küche“ klingt zunächst befremdlich. In einem gleichlautenden Gedicht erfahren wir, wie die einzelnen „Zutaten“ der jahrzehntelang andauernden Krankheit im Ergebnis schmecken mögen: Man nehme eine Portion Schmerzen. Groß genug und gut verteilt. Dazu etwas Angst. Zwischendurch, je nach Geschmack, auch Panik. Gegen eine derartige Illusionslosigkeit kommen auch zwei Messerspitzen Hoffnung, die dem Teufelstrank aus Medikamenten untergerührt werden, nicht an. Auch die Liebe, die gerade zur Verfügung steht, habe keinerlei Chance, aus dem Ganzen einen heilenden Trank zu machen. Solche von Pessimismus geprägte Gefühlslage stellt aber nur eine Facette dieses Lebensberichts dar. Sie gehört jedoch dazu, um die ganze Bandbreite im Leben eines chronisch Kranken zu erfassen. Dazu bedarf es der Sichtweise eines Menschen, der mit wachem, untrüglichem Blick und mit radikaler Ehrlichkeit auf sein Leben und das der anderen, der Gesunden, blickt. Chronisch kranke Menschen werden oft vom Leben abgeschnitten. Dass jedoch all ihre Anstrengungen, ihre Sehnsüchte auf die Totalität des Lebens – Krankheit u n d Gesundheit, Angst u n d Unbeschwertheit, Trauer u n d Glück – gerichtet sind, das will dieser Lebensbericht schildern. Der Verfasser vermittelt uns eine Art Summe seiner Erfahrungen und Überlegungen. Bemerkenswerterweise möchte er, der Pfarrer, der so viel Persönliches preisgibt, nicht ein Buch über das Religiöse in ihm schreiben, das im geschützten Ort meiner Seele bewahrt bleiben solle. Aber von Gefühlen, von Träumen, von Reflexionen über Grenzsituationen des Lebens ist viel die Rede. Der Leser wird aufgefordert, den Autor auf seinen Gedankenreisen zu begleiten und zu entdecken, was es heißt, bedroht und mit Grenzen zu leben. Das Buch ist nicht aufgebaut im Sinn einer Chronologie der Entstehung und Entwicklung der Krankheit. Größere und kleinere Kreise werden um das Geschehen gezogen, das sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten ereignete. So versucht er zu den Kernfragen vorzudringen, sie von allen Seiten her abzutasten. Wie kann der Mensch mit dieser Trauersituation umgehen? Fragen nach dem Warum, nach dem oftmals als unergründlich empfundenen Sinn, dem Zurückgeworfen-Sein auf menschliche Grenzen, Erfahrung von Ohnmacht und Einsamkeit des Kranken – und Erfahrung von Veränderung, Akzeptanz – werden durch das Leiden ausgelöst. Aus eigener Erfahrung gespeiste Überlegungen zu den Pflegediensten in Altersheimen und Hospizen, bei der Trauerarbeit und der Sterbebegleitung sind integriert. Sperls lebenslange intensive Beschäftigung mit diesen Themen, die er auch in verschiedenen Veröffentlichungen vorlegte, ist der Hintergrund für die genaue Schilderung derartiger Begegnungen mit den Grenzsituationen im Leben des Menschen. Aus seinen persönlichen Erfahrungen als Seelsorger in diesen Heimen und als ausgebildeter Trauerberater kann er sagen: Ich habe mir Zeit gelassen. Zeit zum Schweigen. Zeit für Begegnung. Im Zentrum einer Trauerkultur müsse die Erkenntnis stehen, dass Sterbebegleitung auch Lebensbegleitung sei. Seine Gedanken kreisen um die Frage, ob man Trauern lernen u n d zugleich Leben lernen könne. Um diese Polarität im Dasein des Menschen, um seine Sehnsucht nach Ganzheit und Fülle des Lebens geht es letztlich in allen Texten des Buches. Das (schon früher einmal veröffentlichte) „Märchen von einem, der dem Tod davonlaufen wollte“ schlägt ein Leitmotiv des Buches an. In rührender und vergeblicher Hilflosigkeit bittet der Sterbende u. a., noch einmal sein Herz vor Liebe schlagen zu hören, noch einmal nur ins Auge eines nahen Menschen sehen zu dürfen. Der Tod, tief berührt gerade auch im Wissen um sein Außen-Stehen, sein Fremd-Bleiben für den Menschen, erlebt nun mit, eine glitzernde Träne der Bitterkeit im Auge, wie der Sterbende leise entschlief. Sanft darf er sterben, dieser Mensch; seine traumhaften Sehnsüchte(n), die im Leben zu ihm gehörten, begleiten ihn dabei. – An zwei weiteren Stellen rückt die Todes-Thematik in den Mittelpunkt des Textes. Es sind die Kapitel „Der Tod der Unsterblichen“ und „Ich hatte nichts mehr zu verlieren“. Im ersten Fall wird eine Traueransprache abgedruckt, die Sperl nach dem plötzlichen Unfalltod eines befreundeten Arztes hielt. Seine eindrucksvolle Predigt, bei der Feier im Jahre 2004 untermalt mit Bluesmusik, beginnt mit einer Totenklage aus Rumänien (der früheren Heimat) und mündet in eindringliche Fragen nach dem Lebenssinn (… wenn da keine Antwort ist). – Intensives Mitfühlen und Mitdenken wird in noch stärkerem Maße ausgelöst beim Lesen des Kapitels, in dem sich der Verfasser an die Darstellung des alle schockierenden Selbstmords seiner getrennt von ihm lebenden ersten Ehefrau herantastet. Die Ohnmacht, die vielen ungelösten Fragen, Verletzungen, versuchte Antworten, Wut und Trauer, der Umgang mit den Erwartungen der Außenstehenden, der Institution Kirche – offen und sensibel berichtet der mit solch Unfassbarem Konfrontierte über das Geschehen. Im bereits früher verfassten Gedicht „Meine Blume (für Gitta)“ schwingt bereits die Trauer um den Verlust der geliebten Frau mit. Und Sperl bekennt:Ich glaube, dass ich durch Gittas Tod gelernt habe, dass viele Menschen gerade darin ein Vorbild suchen, dass einer sein Herz zeigt, Mensch wird, und nicht die überhöhte, unwirkliche Rolle spielt. Aus den Lebenskrisen und Erschütterungen heraus ist auch jenes Kapitel zu verstehen, das als einziges direkt eine biblische Heilungsgeschichte aufnimmt, nämlich die Geschichte vom Kranken am Teich von Betesda (aus dem Johannesevangelium 5, 1-9). Betesda wird hier mit Blick auf die vielen, die keine Heilung erfahren, auf radikale Weise als Ort der Verzweiflung, der Wut und der Ohnmacht, der Hoffnungen und der Depressionen beschrieben. Die Antwort desjenigen Kranken, der von Jesus geheilt wird, (… ich habe keinen Menschen), wird für den Verfasser zum Ausgangspunkt nüchterner Überlegungen. Nimm Abschied von dem Geliehenen, aber gebrauche es, solange du es hast, ohne Illusion. Es ist nicht festzuhalten, es ist einfach nur zu leben. Und da bleibt die Botschaft: Wenn einer zu dir kommt und mit seiner Engelhand das Wasser deiner Träume bewegt, dann wirst du spüren, wie viel Leben noch in dir verblieben ist. Es wird sich austauschen mit dem Leben deines Begleiters, der sich für dich interessiert und hinter deiner Vergänglichkeit den Wert des Augenblicks entdeckt. Der Wunsch, einfach nur leben zu wollen, bricht immer wieder elementar durch und weckt die Sehnsucht nach einer Gegenwelt zum Kranksein, nach einer Welt der Schönheit, des Aufnehmens mit allen Sinnen, nach Liebe. Erinnerungen an die Jugendzeit mit ihren weißen Wolken, dem Bild des Vaters etc. werden wach. Bilder aus der alten Heimat Rumänien, Momente intensiv gelebter Freundschaften tauchen auf. Sie mischen sich mit der Vision der Mittelmeerinsel „Ikaria“, getaucht ins goldene Licht der untergehenden Sonne, des „Helios“. Das Meer, die Steine, der Wind erzählen dem lauschenden Menschen hier noch von der Trauer des Dädalos, dessen Sohn Ikaros der antiken Sage nach auf seinem Höhenflug der Sonne zu nah kam und ins Meer stürzte. Am Ende steht für Sperl die Überzeugung: Ikaria ist auf der ganzen Welt. Er weiß, dass man das Leben über das Trauern wieder leise lernen kann. Und auch die Liebe zu Frau und Kind gebe Halt, sei ein Ort der Geborgenheit und Verwurzelung. So steht denn auch am Anfang des Buches ein persönlicher Dank an Familie und Freunde, aber auch Ärzte, Therapeuten und Wegbegleiter. Im nachdenklich machenden letzten Kapitel, entstanden inmitten einer erneuten schweren Gesundheitskrise, stellt der Autor fest, dass nun auch die Worte an Grenzen gelangen. Den Leser werden die vielfältigen Themen mit ihrer differenzierten sprachlichen Ausformung noch lange beschäftigen. Ein Pendant zum Lebensbericht ihres Mannes ist das Nachwort seiner Frau. Sigrid Klimbingat schildert die enormen Herausforderungen in ihrer Doppelrolle als ausgebildete Fachärztin und als Ehefrau. Es ist bewegend, nachlesen zu können, wie sie damit ringt, dieser im Grunde über ihre Kräfte gehenden Aufgabe gerecht zu werden. Der Leidensdruck, immer wieder an die Grenzen des emotional Möglichen zu gelangen, gilt für beide Partner, die die Gefühle der Ohnmacht kennen und sich dennoch immer wieder durchkämpfen. Ihr tapferes Motto lautet denn auch: Man kann das Leben nicht verbreitern oder verlängern, nur vertiefen. Und dies gilt auch für Sperls Doppelbelastung als berufstätiger Pfarrer und als kranker Mensch mit vielen Auszeiten. Seine Frau formuliert angesichts enttäuschender Erfahrungen: Wunden, Erschöpfung und Arbeit – krank und gesund – Auszeiten im Krankenhaus und Arbeitszeiten zu Hause, er lebte beides, sowohl als auch. Die Arbeit leistete einen wichtigen Beitrag zu seiner Lebensqualität, zu unserer Lebensqualität. … Arbeit erfordert Kraft, kostet Kraft und schafft wieder neue Kraft, Kraft zum Durchhalten, zum Gesunden, zum Heilen. Sie schafft immer auch neue Lebenskraft. … Die Arbeit chronisch Kranker zeigt der Welt ihre Grenzen, indem sie die Grenzen eines Menschen sichtbar werden lässt. Die offen ausgesprochene Befürchtung der beiden Autoren, eine derart rückhaltlose Ehrlichkeit mache sie verletzbar, ist durchaus verständlich. Sensible Leser werden sich aber dessen bewusst sein. Rolf Königstein Ingo Sperl, In Teufels Küche. Leben mit einer chronischen Krankheit und ihren Folgen. Mit einem Nachwort von Sigrid Klimbingat Steinmannverlag Rosengarten b. Hamburg 2014 Ladenpreis: € 19,80, ca. 240 Seiten ISBN 978-3-927043-59-6