Erstellt am: 02.09.2023 19:10
Von: Carsten Wriedt, Diakon der katholischen Kirche in Backnang


Risse in der Wand

Risse sind wie ein beginnender Hass


„Die Wand war makellos weiß. So hell wie die Sonne. (…) Nach einer Weile hatten meine Augen sich an den gleißend hellen Schein gewöhnt, (…) da sah ich ihn – den Riss! Ja, es war ein winzig kleiner Riss in der sonst so makellos und perfekt weißen Wand (…). Und je länger ich diesen Riss betrachtete, (…) desto mehr erinnerte mich der Riss an einen mikroskopisch kleinen Fluss, der sich durch die Berge und Täler des Wandputzes schlängelte, um vielleicht der Wand – wie ein Fluss in der Wüste – neues Leben einzuhauchen.

Ich hob den dünnen Ast (…) und begann, dem Fluss (…) seinen Weg zu bahnen. Denn wenn der Riss in der Wand ein Fluss wäre, der Leben in die Wand bringen sollte, (…) wollte ich mithelfen, dies zu tun. Und siehe da: Als sei ich Gott selbst, (…) vergrößerte sich, mittels meiner Hilfe (…) der Riss in der Tat sehr schnell.

Plötzlich verspürte ich einen Klaps auf meinem Po. (…) Ich erschrak, (…) hörte die Stimme meines Großvaters Itzhak, die sagte: „So was macht man nicht. (…) Risse sind wie ein beginnender Hass: Man vergrößert sie nicht – man repariert sie.“

Mit dieser Episode aus der Kindheit beginnt die Autobiographie von Shlomo Graber „Denn Liebe ist stärker als Hass“.

Der kleine Riss wirkte verführerisch, das Kind wollte an dem scheinbar Guten mitarbeiten und ahnte noch nichts von dem Schaden, den es anrichtete.

Viele Risse gehen verführerisch durch unsere Gesellschaft: In den Familien, in der Politik, in der Kirche. Worte, zwischen Unachtsamkeit und Vorsatz, vergrößern jeden Riss: So wird der gedachte „kleine Fluss, der Leben bringen sollte“ zur unaufhaltsamen Flut des Verderbens.

Großvater Itzhak hat als gläubiger Jude wohl nicht Jesus zitiert, aber die biblische Botschaft. Das Wort Gottes ruft immer zur Versöhnung auf: „ER ist unser Friede. ER vereinigte die beiden Teile und riss durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder.“ (Epheser 2,14)

Shlomo hat es früh lernen dürfen von seinem weisen Großvater, unsere Kinder heute sollen so aufwachsen, dass Risse repariert werden, niemand auf den anderen herabschaut, weil dieser Mensch anders glaubt, denkt, fühlt oder aussieht – in Familie, Kirche und Gesellschaft. Wenn es „die Großen“ denn vorleben …


 

Carsten Wriedt, Diakon der katholischen Kirche in Backnang


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