Erstellt am: 06.08.2022 21:02
Von: Pfr. Tobias Weimer, Matthäuskirche Backnang


Mensch

Wie heißt ein Mensch, der keine Wohnung hat?


„Wie heißt ein Mensch, der keine Wohnung hat?“

Diese Frage ist mir wieder begegnet. Das erste Mal gesehen hatte ich sie vor etlichen Monaten, da stand sie in großen Buchstaben auf der Fensterscheibe eines Cafés.

„Wie heißt ein Mensch, der keine Wohnung hat?“ Als Antwort stand direkt dabei: „Mensch“.

Spannend, was Sprache so alles mit einem macht. Denke ich „Wohnsitzloser“, „Landstreicherin“, „Penner“ oder was es sonst noch für Bezeichnungen für Menschen ohne festen Wohnsitz gibt, dann habe ich Bilder vor Augen: Menschen mit wirrem Haar, schmuddeliger Kleidung, ungepflegt. Den einzelnen Menschen mit seinem Schicksal sehe ich nicht mehr.

So schnell geht es. Jemand wird in eine Schublade gesteckt und dann war es das. Man schert sich nicht darum, ob jemand wirklich so ist oder nicht. Mir ist das auch schon passiert. Zum Beispiel bei Partys, während des Studiums. „Ah, du studierst Theologie. Das ist ja auch … äh … sicherlich … interessant? Ich gehe mal in die Küche …“ Oder anders gesagt: Wer Theologie studiert, ist langweilig, versteht keinen Spaß, ist irgendwie aus der Zeit gefallen. Und ich dachte nur: „Hä? Du kennst mich doch gar nicht!“ Und natürlich habe auch ich schon oft Menschen direkt in Schubladen gepackt.

Aber eigentlich ist das schade. Wer Menschen direkt in Schubladen packt, bringt sich um die Möglichkeit, seine eigenen Vorurteile zu überprüfen. Man bringt sich um die Chance, Überraschendes zu entdecken. Menschen wirklich zu verstehen oder sogar Respekt zu entwickeln vor einem Menschen, der so viel durchgestanden hat, bis er oder sie letztlich wohnsitzlos auf der Straße gelandet ist.

Zwei Dinge erinnern mich immer wieder daran, dass ich Menschen nicht einfach in Schubladen packe. Das eine ist ein Cartoon. Da fragt ein Erwachsener ein Kind: „Habt ihr Ausländer im Kindergarten?“ Das Kind schüttelt den Kopf: „Ausländer? Nein, nur Kinder.“ Das andere ist eine Aussage über Gott: „Der Mensch sieht, was vor Augen ist. Gott aber sieht auf das Herz.“

Kindergartenkinder mit ihrer Offenheit, Lebensfreude und unverstellten Art. Gott mit seiner Nachsicht, Liebe und Vergebung. Ich finde, das sind zwei gute Vorbilder, um anderen Menschen zu begegnen. Denn genau das sind wir alle: Menschen.

Pfr. Tobias Weimer, Matthäuskirche Backnang


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